alle blicken auf die Ukraine. Einer meiner kurdischen Freunde aus Nordsyrien sagt dazu: „Die Unterstützung für die Menschen dort ist großartig. Aber wer hilft uns? Wir leiden täglich unter Erdoğans Angriffen!“
Ja, ständig erreichen mich schreckliche Nachrichten aus meiner Heimat, die mich erschüttern. Doch von diesen schlimmen Ereignissen bekommt die Weltöffentlichkeit meist nichts mit – wie vor kurzem. Da haben türkische Soldaten in der Stadt Afrin einen Vater von fünf Kindern überfahren. Augenzeugen wollten die Schuldigen erst stellen, erzählt mir der Anrufer mit belegter Stimme. „Doch plötzlich ruft jemand: ‘Es ist doch nur ein Kurde!’. Da sind alle weggegangen.“ Das Opfer starb. Und kurz darauf erfahre ich, dass einer meiner kurdischen Bekannten getötet wurde. Eine türkische Drohne hat sein Auto beschossen.
Vor meinem inneren Auge sehe ich meine Heimat, meine Freunde – und Bomben, die um sie herum explodieren. Oft weine ich dann. Nicht nur Kurden – auch Christen, Aleviten und Yeziden werden von den türkischen Besatzern und dort neu angesiedelten radikalen Islamisten verfolgt; insgesamt 1,5 Millionen Menschen sind geflohen. Manche ins Ausland. Doch viele campieren nahe ihrer Dörfer und müssen ständig bangen: Wann schlagen die Kampfdrohnen wieder zu? Kommen die Kinder vom Spielen zurück? Sind Vater, Mutter oder Angehörige noch schutzlos auf den Feldern? Ist es nicht viel zu gefährlich, eine Hochzeit groß zu feiern oder zu einer Beerdigung zu gehen?
Während für den russischen Präsidenten Putin eine prosperierende demokratische Ukraine eine Horrorvorstellung ist, ist es für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan die Autonomie, die Kurden und andere Minderheiten in Nordsyrien sehr erfolgreich etabliert haben. Deshalb will Erdoğan die kurdische Bevölkerung mit allen Mitteln aus ihren traditionellen Gebieten vertreiben. Erschütternd und folgenschwer:
Die meisten NATO-Staaten sehen weg – aufgrund der geopolitischen Bedeutung ihres NATO-Partners Türkei. Wie auch schon 2018 beim Angriff der Türkei auf meine Heimat Afrin. Und bei weiteren völkerrechtswidrigen türkischen Aggressionen. Doch im Weltsicherheitsrat oder der UN-Generalversammlung waren diese Menschenrechtsverletzungen noch nie Thema.
Erdoğan hat sogar bis vor kurzem den NATO-Beitritt von Schweden und Finnland blockiert. Und NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg äußerte Verständnis für die „Sicherheitsbedenken“ der Türkei gegenüber den Skandinaviern, die viele kurdische Flüchtlinge aufgenommen haben. Die beiden Staaten sollten der Türkei „entgegenkommen“.
Das ist Ausdruck einer beschämenden Doppelmoral: Soll der Kriegsverbrecher Erdoğan aus NATO-Sicht ein Retter sein im Kampf gegen den Kriegsverbrecher Putin? Es leiden wehrlose Menschen! Viele von ihnen sagen mir immer häufiger, ihr Vertrauen in die NATO-Staaten verloren zu haben. Auch meine Frustration wächst. Was nützt mein Engagement überhaupt? In diesem Jahr verzichte ich wegen der türkischen Kampfdrohnen erstmals auf einen Besuch in meiner nordsyrischen Heimat. Aber auch hier in Deutschland werde ich in den sozialen Medien unablässig beleidigt und bedroht. Und noch immer stehen Freunde und Bekannte auf Erdoğans Todesliste, mit der er Oppositionelle überall verfolgt. Meine Frau hat
Angst um mich, sobald ich das Haus verlasse. Kraft dafür, nicht aufzugeben, gibt mir die große und treue Unterstützung auch von Ihnen!
Ich kämpfe also weiter, setze mich ein für die Menschen in meiner Heimat. Dazu gehört, dass wir unsere Kooperation mit unserer Partner-Organisation „Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte“ in London intensivieren. Gemeinsam wollen wir eine Art „Ermittlungsakte Erdoğan“ anlegen, die seine Kriegsverbrechen detailliert dokumentiert. Damit können wir die politischen Akteure dazu zwingen hinzusehen. Denn sie müssen ihre Doppelmoral aufgeben!
Andernfalls nimmt die Politikverdrossenheit weiter zu, ebenso die Zahl politischer Splittergruppen mit teils extremen Positionen. Stärken wir unsere Demokratie! Die Menschen müssen wissen, worauf sie vertrauen können. Und Vertrauen kann nur durch eindeutige moralische und ethische Handlungen entstehen. Ich persönlich möchte auch weiterhin darauf vertrauen können, dass ich nach einer Demonstration nicht verhaftet und an Erdoğan ausgeliefert werde. Verteidigen wir das.
Halten wir deshalb mit einer wachsenden „Ermittlungsakte“ den politischen Akteuren immer wieder den Spiegel vor. Konfrontieren wir sie so lange mit ihrer Doppelmoral, bis sie sich entscheiden: Für Menschenrechte – ohne Wenn und Aber.
Unterstützen Sie uns dabei mit Ihrer Spende. Stärken wir gemeinsam die Rechte von Minderheiten und unsere Demokratie. Ermöglichen Sie unser unablässiges Anprangern von Menschenrechtsverletzungen. Kämpfen wir für eine sichere Welt – für alle. Vielen Dank!
Es grüßt herzlich
Kamal Sido