Berlin – Seit 2016 hat die Türkei ihre Angriffe auf Ziele in Nord- und Ostsyrien intensiviert. Jetzt sollen die Angriffe Konsequenzen haben. Deswegen wurde durch mehrere deutsche Vereine am Donnerstag Strafanzeige gegen türkische Politiker und Militärs bei der Generalbundesanwalt in Karlsruhe gestellt. Darunter: Präsident Recep Tayyip Erdogan, Verteidigungsminister Yaşar Güler, Generalstabschef General Metin Gürak, Luftwaffenkommandeur Ziya Cemal Kadioglu, dem Kommandeur der zweiten Armee, Generalmajor Metin Tokel sowie Generalleutnant Levent Ergün, Außenminister Hakan Fidan und den Chef des Geheimdienstes MIT, Ibrahim Kalın.
Türkei greift auch zivile Infrastruktur an
Begründet wird die Strafanzeige mehrere Vereine und Unterstützer damit, dass die türkischen Angriffe nicht nur auf die Zivilbevölkerung abzielen, sondern auch auf kritische Infrastrukturen, darunter besonders geschützte medizinische Einrichtungen. Erhoben haben die Strafanzeige der MAF-DAD (Verein für Demokratie und internationales Recht e.V.), KURD-AKAD, Netzwerk Kurdischer Akademikerinnen e.V., gemeinsam mit dem Kobanî Medical Center und mit Unterstützung von Prof. Dr. Christian Haasen vom Verein demokratischer Ärzt:innen.
Türkei bezeichnet Angriffe auf Nachbarland mit „Selbstverteidigung“
„In der Eskalationsphase zwischen Oktober 2023 und Januar 2024 erreichte der gezielte Beschuss einen neuen Höhepunkt. Die türkische Regierung rechtfertigte diese Angriffe mit dem Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 der UN-Charta und berief sich auf einen Selbstmordanschlag auf das türkische Innenministerium in Ankara am 1. Oktober 2023, der der [verbotenen, Anm. d. Redaktion] Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zugeschrieben wurde“, heißt es in ihrer Begründung.
Die Türkei hat Kriegsverbrechen im Nachbarland Syrien begangen haben.
Mehrere deutsche Vereine haben gegen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan Strafanzeige gestellt. © dpa/Tunahan Turhan
Laut Antragsteller gäbe es keine Anzeichen dafür, dass Angriffe der PKK jemals aus Syrien heraus auf die Türkei verübt wurden. Die Antragsteller werfen der türkischen Regierung vor, keine Beweise erbracht zu haben, dass die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) und die Autonome Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien eine Bedrohung für die Türkei seien. Es gäbe also keine akute Notwehrsituation für das Land. In ihrer Begründung halten die Antragsteller zudem fest, dass nach humanitärem Völkerrecht medizinische Einrichtungen besonderen Schutz genießen, da sie für die Aufrechterhaltung der Gesundheitsversorgung und das Überleben der Zivilbevölkerung unerlässlich sind.
1031 Angriffe auf Nord- und Ostsyrien in vier Tagen
Die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien hat eine katastrophale Bilanz der türkischen Angriffe veröffentlicht. Alleine zwischen dem 24. und 27. Oktober wurden demnach 1031 Angriffe registriert. Dabei seien 17 Personen getötet und 65 verletzt worden. Und die Angriffe durch die türkische Artillerie und Luftwaffe dürften auch in Zukunft weiter anhalten. Doch in der Türkei wird über eine weitere Bodeninvasion in weitere syrische Gebiete diskutiert. Umso mehr sei ein Ende der türkischen Angriffe erforderlich, erzählen die Antragsteller im Gespräch mit fr.de von IPPEN.MEDIA.
„Wir fordern die deutsche Bundesanwaltschaft auf, Ermittlungen gegen diese türkischen Beamten einzuleiten, ähnlich den Maßnahmen gegen ehemalige syrische Beamte, die für Kriegsverbrechen verantwortlich sind, sowie gegen ISIS-Mitglieder, die am Völkermord an den Êzîd:innen beteiligt waren“, sagt die Co-Vorsitzende von Maf-Dad, Heike Greifswald, bei der gemeinsamen Bekanntgabe der Strafanzeige in der Bundespressekonferenz.
Antragsteller kritisieren Schweigen Deutschlands
„Genau 10 Jahre nach der Befreiung Kobanes sitzen wir in der Bundespressekonferenz und geben die Erstattung der Strafanzeige gegen den türkischen Staatspräsidenten wegen Kriegsverbrechen bekannt. Gleichzeitig ist aber auch das Schweigen der internationalen Staatengemeinschaft, allen voran Deutschland, gegenüber den fortwährenden, völkerrechtswidrigen Angriffen der Türkei auf Nordsyrien anzuprangern“, erzählt die Ärztin und Co-Vorsitzende von Kurd-Akad, Dersim Dagdeviren, gegenüber IPPEN.MEDIA.
Auch wenn Kobane von der Belagerung durch die Terrormiliz IS befreit wurde, ist die Lage dort kritisch. „Aktuell wird Kobane erneut angegriffen, aber dieses Mal von der Türkei. Die Luftangriffe der Türkei zerstören die zivile Infrastruktur und das Menschenleben in Nord- und Ostsyrien. Durch türkische Angriffe bekommt der IS die Möglichkeit, sich wieder zu organisieren“, sagt Ilham Ehmed, Co-Vorsitzende des Büros für auswärtige Angelegenheiten der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien.
Erdogan lässt seit Jahren Rojava bombardieren
Auch andere Beobachter erzählen, wie sehr die Menschen in der Region, die die Kurden Rojava nennen, leiden – und das seit Jahren schon. Das bestätigt auch Bianca Winter, vom Verein „Städtefreundschaft Frankfurt-Kobane“, im Gespräch mit unserer Redaktion. Der Verein unterstützt ein Waisenhaus in der Nähe der türkischen Grenze. „Die Kinder sind massiv belastet. Die türkischen Kampfflugzeuge und Drohnen greifen immer wieder die Region an und die Explosionen machen den Kindern Angst“.
Experte geht von Untätigkeit deutscher Behörden aus
Auch die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) beobachtet die seit Jahren anhaltenden Angriffe auf Nord- und Ostsyrien, bei der auch massiv zivile Infrastruktur zerstört wird. „Ziele der Angriffe waren neben Polizeistationen, die die Bevölkerung vor dem IS schützen, auch Dienstleistungszentren und andere lebenswichtige Einrichtungen und Infrastrukturen wie Ölraffinerien, Wasser- und Elektrizitätswerke sowie Brotfabriken und Krankenhäuser“, erzählt Dr. Kamal Sido, Nahostreferent bei der GfbV, im Gespräch.
Daher sei die Strafanzeige gegen Erdogan und andere Verantwortliche absolut gerechtfertigt. Doch der Menschenrechtsexperte glaubt nicht daran, dass der Generalbundesanwalt tatsächlich gegen Erdogan tätig wird. „Ich glaube allerdings nicht, dass die Klage Aussicht auf Erfolg hat. Denn die Bundesregierung wird vermutlich Druck auf die Justiz ausüben und alles dafür tun, dass Erdogans Verbrechen nicht geahndet werden. Die Bundesregierung lässt Kriegsverbrechen nur dann untersuchen, wenn es ihr geopolitisch in den Kram passt“. (erpe)